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Dass sich der «Westen» wandelt, steht für mich ausser Frage. Ich bin sogar der Überzeugung, dass sich aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre eine noch viel grundsätzlichere Frage stellt: Gibt es überhaupt noch den klassischen «Westen»?
Der Begriff entstammt dem Kalten Krieg, in dem sich «Ost» und «West» gegenüberstanden. Der Eiserne Vorhang wurde errichtet, die Berliner Mauer gebaut. Die Führungsmacht des «Ostens», die Sowjetunion, brach dann 1989 zusammen, der eiserne Vorhang fiel, das «Ende der Geschichte» schien erreicht. Aber spätestens mit der erneuten Machtergreifung Putins im Jahr 2012 liess sich eine Wiederauferstehung des diktatorischen Stalin’schen Herrschaftssystems, des «Ostens», in Form eines totalitären Russlands beobachten, das wahlweise an die Sowjetunion oder das Zarenreich anknüpfen möchte. Dabei hat Russland allerdings seine Führungsposition eingebüsst: wirtschaftlich, technologisch und demographisch befindet sich Russland auf dem absteigenden Ast, was der amerikanische Senator McCain schon vor Jahren vorhergesagt hatte: «Russland wird auf Dauer zur Tankstelle Chinas.» China hat die Führungsrolle Russlands im klassischen «Osten» übernommen und versucht, diesen sehr viel aktiver als die alte Sowjetunion global auszubauen. Aber auch bei China gibt es erste Anzeichen dafür, dass das Land den Zenit überschritten hat.
Anders der «Westen»: Hier hat sich die jahrzehntelange Führungsmacht, die USA, aus dem klassischen westlichen Bündnis verabschiedet. Der Auftritt des amerikanischen Vizepräsidenten Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der er sich u.a. als Lautsprecher der deutschen rechtsextremistischen Partei AfD betätigte, und der erniedrigende Empfang des ukrainischen Präsidenten Selenski im Weissen Haus machten für jedermann deutlich, dass sich die USA von ihrer Rolle als westliche Führungsmacht verabschiedet hat, dass die «westlichen» Werte wie Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Respekt vor internationalem Recht für sie nicht mehr gelten. Aus der westlichen Führungsmacht wurde ein «transaktionaler», prinzipienloser, unberechenbarer Staat, der sich an eng definierten nationalen Interessen orientiert. Ohne seine Führungsmacht ist der klassische «Westen» nicht mehr existent.
Aber: die Grundideen des «Westens» werden überleben: Vor allem die Europäische Union, die nach den Katastrophen der beiden Weltkriege errichtet wurde, bleibt weiter ein starker Akteur, der seinen Grundprinzipien Rechtsstaat, Demokratie, Solidarität, Marktwirtschaft, Menschenrechte treu bleibt, auch wenn in der EU-Populisten und Nationalisten ebenfalls ihr Unwesen treiben. Hier heisst es wachsam zu bleiben und durch gute Regierungsführung den Gegnern einer offenen Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und die Europäische Union ist nicht alleine: Wir beobachten, dass sich so wichtige Länder wie Grossbritannien, Kanada und Australien ganz bewusst von den USA absetzen und der Europäischen Union und den von ihr vertretenen Grundprinzipien annähern. Ihrerseits streckt die EU ihre Hand aus an mögliche Partner weltweit – von der Schweiz bis nach Südamerika – um eine neue Allianz zu bilden, die sich dem Freihandel und dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtet.
So entsteht auf den Trümmern des alten «Westens» eine neue Allianz des Multilateralismus. Es gilt abzuwarten, ob sie sich durchsetzt gegen Gegner von Innen und von Aussen, namentlich Russland, China und die USA, bei der es mittelfristig nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich wieder auf ihre alte Rolle besinnt. Aber in Zeiten, in denen die auf der VN-Charta beruhende internationale regelbasierte Ordnung unter Beschuss geraten ist, setzt die Allianz ein Zeichen der Hoffnung, dass diese Ordnung doch eine Zukunft hat, sie wieder an Attraktivität gewinnt und sich noch mehr Länder auch im «Globalen Süden» in einer Welt wohler fühlen, in der die Stärke des Rechts regiert und nicht das Recht des Stärkeren.
Bild: Adobe Stock / AlinStock