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Er hat es wieder getan. Dieses Mal traf es die Chefin des Bureau of Labor Statistics. Ihr Vergehen: Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen waren enttäuschend. Nur 73.000 neue Stellen im Juli – deutlich unter den Erwartungen. Noch problematischer: Die Zahlen der beiden Vormonate wurden um fast eine Viertelmillion nach unten korrigiert. Was in der Welt ökonomischer Statistik ein normaler Vorgang ist, denn erste Schätzungen werden regelmässig revidiert, das geriet im politischen Washington zum Drama. US-Präsident Donald Trump feuerte Erica McIntyre und beschuldigte sie auf Truth Social, die Zahlen als Sympathisantin der Demokraten aus politischen Gründen manipuliert zu haben. Ein politisches Exempel, wie man es bislang nur aus instabilen oder autoritären Staaten kannte. Oder wie es die ehemalige Chefin der Federal Reserve, Janet Yellen, zusammengefasst hat: «Das ist etwas, was man nur in einer Bananenrepublik erwarten würde.»
Der Vorgang markiert eine neue Eskalationsstufe im Kampf gegen Fakten – und gegen das Konzept der Wahrheit selbst. Wer die Überbringerin der Nachricht feuert, um die Botschaft aus der Welt zu schaffen, zersetzt das Fundament einer demokratischen Gesellschaft: das Vertrauen in Institutionen. Die ökonomischen und politischen Auswirkungen haben sich bereits in Ländern wie Argentinien oder Griechenland beobachten lassen: Die Manipulation von ökonomischen Daten führt langfristig zu institutionellen Verwerfungen, Wirtschaftskrisen und einer massiven Erosion von Vertrauen in die Regierung. Solche Entwicklungen sind nun auch in den USA möglich, die einst ein Leuchtturm demokratischer Ordnung und freier Märkte waren. Was hier geschieht, ist mehr als ein Warnsignal. Es ist ein Zeichen dafür, dass wir es mit einem strukturellen Wandel zu tun haben - der Etablierung einer neuen Form politischer Herrschaft.
Diese neue Regierungsform lässt sich nicht mehr allein mit klassischen Begriffen wie Populismus oder autoritärem Führungsstil beschreiben. Sie ist das Resultat einer systematischen Umstellung politischer Kommunikation und Herrschaft auf die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie. Ihre Währung ist Beachtung, ihr Werkzeug: Empörung, Polarisierung, Tempo.
«Meine Erfahrung besteht aus dem, auf das ich bereit bin, meine Aufmerksamkeit zu richten», sagte William James, einer der Väter der Psychologie in den USA 1890. Er hat damit klug auf den Punkt gebracht, was heute noch viel mehr gilt: Real ist nur, was Aufmerksamkeit von den Menschen bekommt. Die wichtigste Information, die kritischste Meinung, verliert sich im Nichts, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit abwenden. Aufmerksamkeit ist heute das wichtigste und inzwischen auch knappste Gut, das Menschen über Wahrnehmung gegen Anerkennung tauschen können. Sie ist die Kernressource eines gesamten Wirtschafts- und Politiksystems, wie der Architekt und Philosoph Georg Franck schon 1998 in seinem Buch «Ökonomie der Aufmerksamkeit» beschrieb.
Trumps Umgang mit Aufmerksamkeitssteuerung über Soziale Medien ist kein Exzess, sondern Blaupause. Seine zweite Amtszeit ist geprägt von einem hyperaktiven Regierungsstil. Er regiert über das Abfeuern von Executive Orders in Serie, durch die permanente Präsenz auf seiner eigenen Plattform Truth Social. Und über eine Politik, die sich immer weniger an der Verfassung oder den Rechten des Kongresses orientiert, sondern an der nächsten Aufmerksamkeitswelle. Der Historiker D. Graham Burnett hat dafür ein treffendes Bild gefunden: «Fracking people’s minds». Politik als Hochdruckbetankung mit manipulativen Botschaften, oder: das ständige Aufbohren der Aufmerksamkeitskanäle, um den Bürgerinnen und Bürgern die eigene Agenda einzublasen.
Dieser Aufmerksamkeits-Autoritarismus ist das systematische Ergebnis jahrelanger Vorbereitung und strategischer Anpassung an ein neues Medienzeitalter. Steve Bannon, Trumps einstiger Chefstratege, brachte es auf die krasse Formel: «Flood the zone with shit.» Überflute den öffentlichen Raum so lange mit so viel Müll, dass niemand mehr zwischen Fakten und Fakes unterscheiden kann. In dieser Kakophonie herrscht nicht mehr Wahrheit, sondern Lautstärke. Wer am lautesten schreit, regiert. Und wer weiter regieren will, muss weiter laut schreien. Politik wird so zur Dauerwerbesendung – eine Einbahnstrasse, auf der Trump die Themen setzt für die Masse der Volksempfänger.
In den USA hat der Aufmerksamkeits-Autoritarismus die deliberative Demokratie abgelöst. Sie lebt vom Wechselspiel aus Rede und Gegenrede, von der Bereitschaft zuzuhören, Argumente abzuwägen, Kompromisse zu finden. Es ist ein langsamer, oft mühsamer Prozess, aber einer, der Konsens und Stabilität erzeugt.
Der Aufmerksamkeits-Autoritarismus verachtet diese Langsamkeit. Er will Geschwindigkeit und Vereinfachung, denn beides dient der Polarisierung. «Divide et impera» heisst hier: Herrsche durch Spaltung. Viele Studien zeigen, dass Soziale Medien in diesem Veränderungsprozess eine wesentliche Rolle spielen. Eine Umfrage von PEW-Research aus 2022 zeigt, dass in den USA die negativen Folgen deutlich überwiegen. 64 Prozent der Befragten sehen Soziale Medien als schlechte Entwicklung für die Demokratie. 79 Prozent glauben, dass die Bevölkerung durch sie stärker gespalten ist und 69 Prozent, dass die Menschen weniger zivilisiert über Politik sprechen.
Auch in Europa sind diese Mechanismen inzwischen angekommen. Man muss nicht nach Ungarn oder Italien schauen. Auch in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden zeigt sich, wie Debatten auf Social Media orchestriert, Empörungsspiralen erzeugt und fehlgeleitete Narrative in Echtzeit produziert werden. In Deutschland hat kürzlich eine von rechtsgerichteten Onlineplattformen gesteuerte Kampagne mit 40.000 Postings auf der Plattform X (einst Twitter) gegen die Kandidatin für das Bundesverfassungsricht, Frauke Brosius-Gersdorf, dazu beigetragen, dass deren Wahl im Deutschen Bundestag einstweilen abgesetzt wurde. Inzwischen hat Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zurückgezogen.
Die Algorithmen, die «User Engagement» befördern sollen und damit nachweislich zur Verbreitung von Hass-Kommunikation beitragen, sind inzwischen zur Infrastruktur autoritärer Einflussnahme geworden. Die Plattformlogik hat die Staatslogik gekapert.
So findet der Aufmerksamkeits-Autoritarismus Anschluss in Demokratien, die sich selbst lange als nahezu vollendet betrachteten. Der Westen war überzeugt, das Ende der Geschichte erreicht zu haben, wie es Francis Fukuyama 1989 in seinem gleichnamigen Buch beschrieb. Liberalismus und Demokratie schienen unbesiegbar. Doch dieser Glaube war trügerisch.
Das Wachstum des Verwaltungsstaates innerhalb der Exekutive und die militärische Kraft, so analysierte es der US-Historiker Arthur Schlesinger Jr. schon in den 1970er Jahren, führt in Verbindung mit anderen Einflüssen zu dem, was er als «imperiale Präsidentschaft» bezeichnet. Donald Trump ist gerade dabei, dieses Regierungsmodell über das autoritäre Management von Aufmerksamkeit zu perfektionieren.
Viele westliche Demokratien haben es versäumt, sich zu erneuern. Die politische Teilhabe wurde auf Wahlen reduziert, Bürgerinnen und Bürger fühlen sich zunehmend entfremdet von einem Politikbetrieb, der bürokratisch, langsam und selbstbezogen wirkt. Dieses Bedürfnis nach Einfachheit, Klarheit und Identität ist ein idealer Nährboden für das Versprechen des Aufmerksamkeits-Autoritarismus.
Die Erosion demokratischer Strukturen geschieht nicht über Nacht. Sie geschieht schleichend, fast unsichtbar. Institutionen werden geschwächt, Expert:innen diskreditiert, die Sprache vergiftet. Am Ende bleibt eine Fassade, hinter der die Regeln längst andere geworden sind. Wenn wir diese Entwicklung nicht aufhalten, wird nicht mehr nach demokratischen Regeln entschieden, sondern der Algorithmus entscheidet. Und der fragt nicht nach Gerechtigkeit, sondern nach Reichweite.
Viele westliche Demokratien müssen beginnen, sich dieser Herausforderung zu stellen und sich von innen heraus zu erneuern. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, dass der Staat funktioniert, für dessen Leistungen sie Steuern zahlen. Sie dürfen erwarten, dass Politik sich kommunikativ legitimiert und nicht in PR-Sprechblasen erstickt. Und sie haben einen Anspruch darauf, dass auch die verfassungsrechtlichen Grundannahmen einer Demokratie viele Jahrzehnte nach ihrer Einsetzung diskutiert werden dürfen und - wo nötig - erneuert werden.
Der ehemalige deutsche Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einmal gesagt: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Vertrauen, Zivilcourage, Gemeinsinn – all das muss durch eine aktive Belebung der politischen Kultur immer wieder neu erzeugt werden. Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie braucht Pflege, Leidenschaft und Bereitschaft zur Selbstkorrektur.
Von einem unverbindlichen virtuellen Like kann auf Dauer keine Demokratie überleben.
Buch
Ein faszinierendes Buch, das den frühen Versuch beleuchtet, die Zukunft mit datengetriebenen Prognosen und Modellen vorherzusagen - lange bevor Big Data und soziale Medien unser Leben dominierten. Jill Lepore entführt uns in die Geschichte der Simulmatics Corporation, die in den 1960er Jahren versuchte, mit der Analyse von Daten die Gesellschaft zu steuern - erst von der 5th Avenue in New York aus fürs kommerzielle Marketing, dann im Wahlkampf 1960 für John F. Kennedy, und irgendwann sogar im Vietnamkrieg. Ihre Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie technologische Entwicklungen und die Frühformen der Datenanalyse die politische Landschaft beeinflussten und bis heute unser Verständnis von Demokratie und Macht verändern. Sie zeigt aber auch, wo die Grenzen der Technisierung von Demokratie liegen.