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Things fall apart; the centre cannot hold
Auch wer kaum Gedichte liest, ist dieser Zeile aus «The Second Coming» (1919) wahrscheinlich schon begegnet: Die einbrechende Mitte, der Zerfall aller Dinge – dieser apokalyptischen Stimmung, die William Butler Yeats (1865-1939) erzeugt, bedienen sich regelmässig politische Kommentarspalten, Buch- und Artikeltitel. Nicht zuletzt, um den Zustand der US-amerikanischen Demokratie zu beschreiben. Selbst Oren Cass, der Gründer des Think Tanks «American Compass», kommt am Ende von «The New Conservatives» nicht an dem irischen Dichter vorbei, mit dem sich Konservative immer wieder gern befassen. Dabei bricht er ansonsten mit allem, was wirtschaftspolitisch bis vor der Stunde Trumps noch zur konservativen Orthodoxie gezählt hat: mit dem Glauben an den Markt, der Globalisierung, dem Freihandel und mit der Idee, der Wohlstand der Amerikaner bemesse sich vor allem an ihrem Konsumglück. In «The New Conservatives» skizzieren Cass, seine Mitstreiter bei American Compass und mit ihnen verbündete Politiker einen konservativen Gegenentwurf, der Medien und Republikaner hat aufhorchen lassen.
Oren Cass war bis vor kurzem nur jenen ein Begriff, die wie er selbst zu den Politikbesessenen zählen und sich vor allem mit den jüngeren Entwicklungen im konservativen Spektrum befassen. Denn gerade für dieses liess sich 2016 Yeats zitieren: The centre did not hold. Das Zentrum respektive der Konsensus, der Amerikas konservative Bewegung bis anfangs des 21. Jahrhunderts zusammenhielt, war ein Amalgam widersprüchlicher, aber politisch durchsetzungsfähiger Ideen. Seit der Wahl Ronald Reagans lautete die ideologische Erfolgsformel der Konservativen «Marktliberalismus plus Sozialkonservatismus = Wählerkoalition von Libertären, Traditionalisten und der Religiösen Rechten». Mit dem Ende des Kalten Krieges konnte die anti-kommunistische Mission nicht mehr als Klammer dienen, dennoch hielt der konservative Konsensus – bis Donald J. Trump die alte Formel entzauberte. Es war das Ende einer bis anhin selbstverständlichen marktliberalen «Orthodoxie».
Trotz seines relativ jungen Alters von 39 Jahren gehörte Oren Cass eigentlich lange zu den Repräsentanten der alten konservativen Garde: Mit Abschlüssen am exklusiven Williams College und an der Harvard Law School trägt er einen privilegierten und privilegierenden Bildungsrucksack, der ihm früh den Zugang zu Entscheidungsträgern verschafft hat. So arbeitete er 2012 als innenpolitischer Berater für die Präsidentschaftskampagne des Republikaners Mitt Romney – ausgerechnet für den Kandidaten also, dem nachgesagt wurde, über zu wenig Gespür für die Mehrheit der Amerikaner zu verfügen, völlig out of touch zu sein. Allerdings, so schildert es Cass in Interviews, war es Romney, der Cass auf die Herausforderung China aufmerksam machte und schon damals darauf drängte, eine Lösung für die erodierenden – oder eben rostenden – Industrien des Mittleren Westens, des rust belts zu finden. Mittlerweile hören alle hin, wenn Cass seine Vision einer populistischen Wirtschaftspolitik schildert – sogar der legendäre Jon Stewart in der Daily Show.
Diese Aufmerksamkeit ist vor allem Cass’ Unterstützung für Trumps Zollpolitik geschuldet: 2020 gründete er unter Zuspruch der Senatoren Marco Rubio, Josh Hawley und seines guten Freunds JD Vance den Think Tank «American Compass», zu dessen Grundsatzforderungen ein allgemeiner Importzoll von 10 Prozent gehört. Während klassisch liberale Kritiker dahinter eine – wie es The Economist formulierte – nostalgische «manufacturing delusion» vermuten, die Illusion einer Re-Industrialisierung, glauben Cass und seine Unterstützer an einen Paradigmenwechsel. Schon 2018 legte er in «The Once and Future Worker: A Vision for the Renewal of Work in America» den Grundgedanken dar, die USA dürfe sein Wohlstand und Wachstum nicht allein am Bruttoinlandprodukt (BIP) festmachen. Wenn das BIP zwar steigt, sich eine Familie aber nicht mehr von einem Einkommen allein ernähren kann – dann sei etwas grundsätzlich falsch.
Stattdessen plädiert Cass – und damit auch American Compass – für einen «produktiven Pluralismus» (productive pluralism): «the economic and social conditions in which people of diverse abilities, priorities, and geographies, pursuing varied life paths, can form self-sufficient families and become contributors to their communities» (Oren Cass, The Once and Future Worker, New York; London: Encounter Books, 2018, S. 30). Nicht der Bürger als Konsument, sondern als produktive Kraft steht im Zentrum. Amerikaner jeden Bildungsstands sollen in der Lage sein, in allen Regionen des Landes einer produktiven Arbeit nachzugehen, von der sie ihre Familie ernähren können. Fertigungsindustrien spielen dabei eine Schlüsselrolle, weil diese gerade in den «fly-over states» gut anzusiedeln sind (und es historisch auch waren) – und weil dort die besten Berufsaussichten für Arbeiter ohne College-Ausbildung bestehen. Konkret mündet das in eine Wirtschaftspolitik, die sich für Europäer in Teilen wie einstige Christ- oder Sozialdemokratie anhört: Anerkennung der Würde aller Arbeit, Fokus auf existenzsichernde Löhne und damit auch Schutz heimischer Industrien und Arbeiter, Stärkung von Gewerkschaften und der Berufsausbildung.
Auf diese Vision ist das eben erschienene Buch «The New Conservatives» ausgerichtet, das mehrheitlich aus Beiträgen von Cass besteht. Spannend sind einige Mitautoren: So finden sich Kapitel des einstigen «Zollzaren» Robert Lighthizer sowie des heutigen Aussenministers Marco Rubio, der die verfehlte Chinapolitik beklagt und einen neuen Kurs anmahnt. Zwar sind deren Beiträge –, bereits andernorts erschienen, doch ihr Mitwirken am Buchprojekt zeugt eindrücklich von der Wirkmacht des jungen Think Tanks. Vielsagend sind auch die Schwerpunkte, die Cass und seine Mitstreiter setzen: Während sich Konservative normalerweise an der Gesellschaft als solche, an deren Werten und Normen oder deren Verhältnis zum Staat abarbeiten, geht es den selbsterklärten neuen Konservativen letztlich vor allem um die Neuorganisation der Marktwirtschaft. Schon der erste Teil zu «Prinzipien» widmet sich einzig wirtschaftspolitischen Fragen – selbst das darin enthaltene Kapitel zum Staat mag sich nicht über demokratische Defizite und Stärken äussern. Im darauffolgenden Teil zu «Produktion» gibt es zwar einen kurzen aussenpolitischen Ausflug in die Volksrepublik China, der aber eingebettet ist in Betrachtungen zur Globalisierung und Industriepolitik.
Nach «Prinzipien» und «Produktion» ist der dritte und abschliessende Teil mit «People» überschrieben. Er thematisiert Familienpolitik (passenderweise kommt hier auch eine von nur zwei weiblichen Mitautorinnen zu Wort). Doch wird nun alles zum wirtschaftspolitischen Problem. Fast scheint man ein marxistisches Echo zu vernehmen, dass eben Basis und Unterbau bestimmen; Ideen, Werte sind – entgegen der konservativen Überzeugung – Folgeerscheinungen.
Erst wenn Cass sich den Zeilen Yeats bedient, klingt er wie ein «alter» Konservativer. Er ist indessen einer, der sich sehr bewusst ist, dass der Kern des US-Konservatismus seine stete Neuverhandlung ist. Entsprechend muss nicht traditionell konservativ sein, was sich konservativ nennt – es wäre nicht das erste Mal, dass in den USA Ideologien umetikettiert werden. Allerdings nicht über Nacht:
Nicht alle in der «Grand Old Party» haben ihren wirtschaftspolitischen Kompass bereits neugeeicht, wie Oren Cass feststellen musste. So versuchte er Ängste zu zerstreuen, die Zollpolitik werde ins Verderben führen, und beklagte die Steuersenkungen in der berüchtigten «Big Beautiful Bill». Aber Cass wird Yeats’ Gedicht wohl über die berühmte Zeile hinausgelesen haben und weiss daher durchzuhalten:
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.
Bild: Adobe Stock / egoroff
Buch
Deneen hat 2018 die für mich noch immer schärfste konservative Zeitdiagnose publiziert. Aus meiner Sicht: Pflichtlektüre. Auch Oren Cass liest sich oft wie ein Echo auf Deneen.
Podcast
Es gibt mehr konservative Podcasts als Zeit, diese alle zu hören. Aber Ross Douthats «Interesting Times» lohnt die wöchentlichen 45 Minuten. Seine Gäste sind mehrheitlich Konservative, einige sehr bekannt wie Peter Thiel und Vizepräsident JD Vance, andere immer bekannter wie eben Oren Cass, oder (für viele von uns) noch zu entdecken wie Verleger Jonathan Keeperman.
Serie
«We’re steeped in liberal culture» – Wir seien durchtränkt von linksliberaler Kultur, behaupten viele Konservative: Filme, Fernsehen, Musik, alles sei «woke» und «out of touch». Es gibt allerdings Produktionen, die mit Erfolg vor allem auch das konservative Publikum erreichen: Die Neo-Western-Serie «Yellowstone» mit Kevin Costner bedient das Publikum mit Geschichten über Familienbande, Loyalität, Widerstand gegen Staat, den Konflikt zwischen urbaner Küstenmentalität und jene des Nordwestens sowie über die Verbundenheit mit dem Land an sich.