Bilanzskandale wie bei Wirecard, Enron oder Signa entstehen trotz Regulierung immer wieder. Die grundlegenden Methoden des Missbrauchs sind seit Jahrhunderten gleich: Vermögenswerte werden zu hoch bewertet, Schulden versteckt oder Konzerne falsch konsolidiert. Oft beginnt kein Skandal mit klarem Vorsatz; unter Leistungsdruck werden zuerst bilanzielle Spielräume genutzt, bis daraus bewusster Betrug wird. Hinzu kommen handwerkliche Fehler, weil Unternehmen in Buchhaltung und Systeme zu wenig investieren. Regulierung kann solche Fälle nur begrenzt verhindern, da Finanzmärkte stets neue Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Darum braucht es gute Ausbildung, ethisches Bewusstsein und kritisch denkende Nutzer von Finanzinformationen.

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Bilanzskandale: Es endet häufig hässlich, wenn man die Zahlen aufhübscht

Immer wieder kommt es zu spektakulären Bilanzskandalen wie Signa, Wirecard oder Enron. Wie kann das so oft passieren? Lässt sich das nicht verhindern? Mit Regulierung allein jedenfalls nicht.
Zusammenfassung Bilanzskandale wie bei Wirecard, Enron oder Signa entstehen trotz Regulierung immer wieder. Die grundlegenden Methoden des Missbrauchs sind seit Jahrhunderten gleich: Vermögenswerte werden zu hoch bewertet, Schulden versteckt oder Konzerne falsch konsolidiert. Oft beginnt kein Skandal mit klarem Vorsatz; unter Leistungsdruck werden zuerst bilanzielle Spielräume genutzt, bis daraus bewusster Betrug wird. Hinzu kommen handwerkliche Fehler, weil Unternehmen in Buchhaltung und Systeme zu wenig investieren. Regulierung kann solche Fälle nur begrenzt verhindern, da Finanzmärkte stets neue Umgehungsmöglichkeiten schaffen. Darum braucht es gute Ausbildung, ethisches Bewusstsein und kritisch denkende Nutzer von Finanzinformationen.
Veröffentlicht am: 18.12.2025
Peter Leibfried

Am 22. Juni 2020 teilte der Zahlungsdienstleister Wirecard per Ad-hoc-Meldung mit, dass in der Bilanz ausgewiesene Guthaben von über 1.9 Mrd. Euro «mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren». Dieser Betrag entsprach etwa einem Viertel der Bilanzsumme des damals im Index der grössten börsennotierten deutschen Unternehmen (DAX) gelisteten Konzerns. Vorstandsmitglied Jan Marsalek, Hauptverdächtiger in diesem Bilanzbetrug, ist seither auf der Flucht. Um ihn ranken sich Gerüchte, wilder als mancher Agententhriller. Ein Bilanzskandal – wieder einmal. In den letzten 30 Jahre wurde weltweit kaum ein grosser Kapitalmarkt davon verschont. Und die Probleme sind nicht auf börsennotierte Unternehmen begrenzt; von der Schweizer Erb-Gruppe Ende der 90er Jahre bis zum aktuellen Zusammenbruch des Signa-Konzerns des österreichischen Finanziers René Benko ging es immer auch um fehlerhafte Berichterstattung.

Der grundsätzliche Anspruch ist klar

Trotz internationaler Unterschiede hat Rechnungslegung weltweit den Anspruch, ein möglichst transparentes und verlässliches Bild der wirtschaftlichen Lage einer Unternehmensgruppe zu vermitteln. In eher traditionellen Systemen wie dem Schweizer Obligationenrecht OR oder dem deutschen Handelsgesetzbuch HGB dominiert das Vorsichtsprinzip: Die meisten Bilanzpositionen werden mit ihren historischen Anschaffungskosten angesetzt. Über die Dauer führt dies aufgrund tendenziell steigender Werte zwar zu unrealistisch «pessimistischer» Darstellung, trägt aber zu einer grösseren Widerstandskraft der Unternehmen bei. In angelsächsischen Rechnungslegungssystemen werden häufiger Marktwerte bilanziert. Diese sind oft höher, schwanken aber stärker, so dass ein Investor Sicherheitsabschläge machen muss. Im Ergebnis spielen diese Unterschiede eine kleine Rolle – und sicherlich betragen sie nicht wie bei Wirecard ein Viertel der Bilanzsumme. Wo also liegt das Problem?

Immer dieselben Tricks

Wer in der Schule nur nebenbei damit zu tun hatte, mag Buchhaltung als anspruchsvoll empfinden. Für ausgebildete Berufsangehörige ist es das nicht. Das zugrundliegende System geht auf den italienischen Franziskanermönch Luca Pacioli zurück, der die doppelte Buchhaltung im Jahr 1494 das erste Mal beschrieb. Seither hat sich bei den Grundlagen wenig getan. Demzufolge gibt es auch nur einen überschaubaren Kreis an möglichen Missetaten:

  • Zu hohe Bewertung von Aktiven (Vermögenswerten) oder Bilanzierung nicht vorhandener Aktiven. So geschehen z.B. beim US-Telekommunikationsunternehmen Worldcom. Dort waren Leitungskosten in Milliardenhöhe fälschlicherweise als Anlagevermögen verbucht worden, anstatt sie in den Aufwand zu nehmen;

  • Nicht-Bilanzierung oder zu niedrige Bewertung von Passiven (Verbindlichkeiten). So hatte z.B. der US-Versicherungskonzern AIG zu geringe Rückstellungen für Schadensfälle gebildet und dadurch Gewinne zu hoch ausgewiesen;

  • Unzutreffender Einbezug von Tochter-/Schwestergesellschaften (Konsolidierung), d.h. konsolidierungspflichtige Gesellschaften werden weggelassen, oder nicht konsolidierungsfähige Gesellschaften einbezogen. Dies war z.B. der Fall beim US-Energiekonzern Enron, der eigene Schulden auf hunderte faktische Tochtergesellschaften übertragen hatte, diese aber nicht konsolidierte.

Praktisch alle grossen Bilanzskandale lassen sich einem dieser drei Muster zuordnen. Es sind also immer wieder dieselben Themen, die zur Bilanzproblemen führen. Wie kann das sein?

Das Problem liegt in der Anwendung

Trotz der vielen Zahlen ist Rechnungslegung eine Sozialwissenschaft: Es geht um die Kommunikation darüber, was man erreicht hat – und damit um eine zutiefst menschliche Herausforderung. So haben die grossen Bilanzskandale oft eine überraschende Eigenschaft gemein: Es fehlt zu Beginn ein klarer Vorsatz oder kriminelle Energie. Die Probleme entstehen in der Regel Schritt für Schritt: aus hohem internen und externen Erwartungsdruck sowie ambitionierten, vielleicht unrealistischen Zielen entsteht eine aus der grossartigen Dokumentation über den Enron-Skandal bekannte Kultur des «failure is not an option». Kommt es nicht wie erwartet (und kommuniziert), wird zuerst die Jahresrechnung «gestaltet»: Man nutzt «bilanzpolitische Spielräume» aus und hofft auf ein rasches Schliessen der Lücken durch künftige positive Wendungen. Treten die nicht ein, sind die zwischenzeitlich aufgelaufenen Beträge mitunter so hoch, dass es schwerfällt, sich und anderen die Situation einzugestehen und die Reissleine zu ziehen. Die Bilanzierenden werden Gefangene ihrer eigenen «Erfolgsgeschichte». Wer nicht den notwendigen moralischen Kompass und ausreichend Unabhängigkeit besitzt, überschreitet womöglich die Grenze des Erlaubten. Aus kreativer Bilanzpolitik wird so krimineller Bilanzbetrug, aus dem man sich erst recht nicht mehr befreien kann. Ein Wechsel des Managements mag helfen, aber nicht jede Organisation bringt die Kraft dazu auf. Dies gilt insbesondere, wenn noch Gründungspersonen an der Spitze stehen oder hohe finanzielle Anreize eine Rolle spielen.

«So haben die grossen Bilanzskandale oft eine überraschende Eigenschaft gemein: Es fehlt zu Beginn ein klarer Vorsatz oder kriminelle Energie.»

Eine zweite und häufige Ursache für falsche Bilanzierung liegt schlicht im handwerklich-technischen Bereich. Dabei spielt eine Rolle, dass Buchhaltungssysteme traditionell auf Stabilität ausgelegt sind. Laufende Akquisitionen und Desinvestments, innovative und sich ändernde Geschäftsmodelle, international verstreute Stakeholder mit unterschiedlichen Anforderungen und immer umfangreichere regulatorische Vorgaben sind ganz andere Rahmenbedingungen, als Luca Pacioli sie hatte. Es kostet Unternehmen erhebliche Ressourcen, um in einem dynamischen Umfeld mit der Rechnungslegung Schritt zu halten. Gleichzeitig ist das Management hinsichtlich seiner Finanzabteilungen in der Regel viel weniger investitionsbereit als zum Beispiel bei Vertrieb und Logistik, wo es um die unmittelbare Leistungserbringung geht. Buchhaltung kostet vordergründig nur, und wenn es dort ein wenig «knirscht», merken es zunächst nur wenige. Auf den Umsatz wirkt es sich nicht aus. Man spart also gerne, und wundert sich dann, wenn Personal und Systeme auf einmal nicht mehr ausreichend sind.

Regularien hinken hinterher

 Um Bilanzskandale zu verhindern, wurde eine Vielzahl von Governance-Mechanismen etabliert: Von der Revisionsstelle über das Audit Committee bis hin zu hoheitlichen Enforcement-Mechanismen wie Börsen- und Revisionsaufsicht hatte bisher jeder grosse Bilanzskandal regulatorische Konsequenzen. Die meisten davon sind überaus sinnvoll. So führte der Wirecard-Skandal dazu, dass die zuvor privatwirtschaftlich organisierte Aufsicht durch die «Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung DPR» mittlerweile von der staatlichen «Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)» wahrgenommen wird. Und aufgrund des gelegentlichen Versagens der Revisionsstellen gibt es in allen grossen Kapitalmärkten inzwischen auch eine staatliche Wirtschaftsprüfungs-Aufsicht.

«Bilanzskandale dauerhaft wegzuregulieren, ist eine Illusion.»

Reicht das, um künftige Probleme zu verhindern? Sicherlich nicht. Die Erfahrung lehrt, dass Finanzmärkte immer neue Möglichkeiten schaffen, den vorhandenen Rahmen zu umgehen. Bilanzskandale dauerhaft wegzuregulieren, ist eine Illusion. Darum sind auch die Hochschulen gefragt: Wir dürfen nicht nur die technischen Grundlagen der Bilanzierung unterrichten, sondern müssen auch vermitteln, dass wir es mit einem sensiblen öffentlichen Gut zu tun haben. Der «Code of Ethics for Professional Accountants» der internationalen Berufsorganisation IESBA drückt es überaus treffend aus: «A distinguishing mark of the accountancy profession is the acceptance of responsibility to act in the public interest. A professional accountant’s responsibility is not exclusively to satisfy the needs of an individual client or employing organization.» Gerade auf die Gefahr der beschriebenen, schrittweisen Grenzüberschreitung müssen wir in der Ausbildung wiederholt aufmerksam machen, und Handlungsoptionen mitgeben. Zudem müssen wir klarmachen, dass sich Investitionen ins Accounting – auch in die Ausbildung – langfristig lohnen. Und nicht zuletzt sollten wir unsere Studierenden in ihrer Rolle als Empfängerinnen und Empfänger von Finanzinformationen in die Lage versetzen, zu erkennen, wenn eine Berichterstattung nicht die Realität abbildet. So heisst es auch im Enron-Film: «If something sounds too good to be true, it probably is». Ein Satz, den sich im Übrigen auch Anlegerinnen und Anleger merken sollten.

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Christof Schürmann: Die Bilanztrickser - wie Unternehmen ihre Zahlen frisieren und den Anleger täuschen

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Christof Schürmann hat als Journalist bei der WirtschafsWoche über viele Jahre die Berichterstattung von Unternehmen kritisch begleitet. Dabei schaut er nicht nur auf die allgemeine betriebs- und finanzwirtschaftliche Entwicklung, sondern setzt sich auch mit den dazugehörigen Fragen von Rechnungslegung und Bilanzierung auseinander. Er zeigt, wo Spielräume bestehen, und liefert Beispiele, wie diese genutzt werden.