Dewey und Pastor zeigen, wie eng illegaler Drogenhandel mit legalen Märkten und Technologien verflochten ist. Im peruanischen Amazonasgebiet sichern Kleinbauern durch Kokaanbau ihre Existenz, während Chemikalien aus der globalen Industrie – oft legal importiert – massenhaft in die Kokain- und Synthesedrogenproduktion fliessen. Da Regulierungen zwischen Staaten stark variieren, können kriminelle Akteure problemlos auf weniger kontrollierte Ersatzstoffe ausweichen. Gleichzeitig verändern digitale Technologien den Handel: Über verschlüsselte Messenger, soziale Medien und digitale Zahlungssysteme organisieren vor allem junge Händlerinnen und Händler Verkauf und Bezahlung. Synthetische Drogen gelangen zunehmend von Europa nach Südamerika und erweitern lokale Märkte. Die Beispiele zeigen, dass illegale Ökonomien ohne legale Infrastrukturen nicht funktionieren. Daraus ergeben sich zentrale Herausforderungen: strengere Regulierung von Chemikalien und Finanzsystemen, wirksamere Kontrolle digitaler Plattformen und eine stärkere staatliche Durchsetzung in einer technologisch zunehmend komplexen Realität.

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Artikel

Chemie und Technologie beflügeln den Drogenhandel

Der globale Drogenhandel floriert nicht nur wegen krimineller Netzwerke, sondern vor allem dank legaler Märkte, digitaler Technologien und regulatorischer Lücken.
Zusammenfassung Dewey und Pastor zeigen, wie eng illegaler Drogenhandel mit legalen Märkten und Technologien verflochten ist. Im peruanischen Amazonasgebiet sichern Kleinbauern durch Kokaanbau ihre Existenz, während Chemikalien aus der globalen Industrie – oft legal importiert – massenhaft in die Kokain- und Synthesedrogenproduktion fliessen. Da Regulierungen zwischen Staaten stark variieren, können kriminelle Akteure problemlos auf weniger kontrollierte Ersatzstoffe ausweichen. Gleichzeitig verändern digitale Technologien den Handel: Über verschlüsselte Messenger, soziale Medien und digitale Zahlungssysteme organisieren vor allem junge Händlerinnen und Händler Verkauf und Bezahlung. Synthetische Drogen gelangen zunehmend von Europa nach Südamerika und erweitern lokale Märkte. Die Beispiele zeigen, dass illegale Ökonomien ohne legale Infrastrukturen nicht funktionieren. Daraus ergeben sich zentrale Herausforderungen: strengere Regulierung von Chemikalien und Finanzsystemen, wirksamere Kontrolle digitaler Plattformen und eine stärkere staatliche Durchsetzung in einer technologisch zunehmend komplexen Realität.
Veröffentlicht am: 18.12.2025
Alvaro Pastor
Matías Dewey und Alvaro Pastor

Rafael ist Kleinbauer im peruanischen Valle de los Ríos Apurímac, Ene y Mantaro, einem der weltweit wichtigsten Drogen-Anbaugebiete. Er ist sich vollkommen bewusst, dass das von ihm angebaute Koka in Mazerationsgruben landet; kleinen Labors, in denen «Narcos» die Blätter zu Kokainpaste verarbeiten. Laut Raphael hat der Kokaanbau seinen Kindern ein Studium in Lima ermöglicht, was mit dem Anbau von Kakao oder Kaffee allein unmöglich wäre. Seine Geschichte ähnelt der vieler Kleinbauern im peruanischen Amazonasgebiet, dem Zentrum des Kokaanbaus und der Produktion von Kokainsulfat. Sie begegnen der ökonomischen Unsicherheit, indem sie sich an einem illegalen Markt beteiligen.

Für die Herstellung von Drogen werden viele Chemikalien benötigt, die grösstenteils legal importiert werden. Sobald die Kokainpaste hergestellt ist, wird sie mit Flugzeugen, kleinen Booten und zu Fuss zu wichtigen Orten wie der Provinz Chapare in Bolivien transportiert. Dort sind Chemikalien, die es für die Veredelung zu Kokainhydrochlorid braucht, billiger und leichter zu beschaffen. Über Brasilien und die wichtigsten Häfen entlang der Atlantikroute wird der grösste Teil des Pulvers nach Europa verschifft. Ein kleiner Prozentsatz versorgt wichtige südamerikanische Märkte wie Buenos Aires, São Paulo oder Montevideo.

Drogen fliessen in beide Richtungen

In den letzten Jahrzehnten sind die urbanen Drogenmärkte in Südamerika gewachsen. Obwohl Kokain und Marihuana weiterhin dominieren, gewinnen synthetische Drogen an Bedeutung. Sie eröffnen neue Wege sowie Tauschgeschäfte und erreichen andere Milieus. Entgegen der gängigen Darstellung, wonach südamerikanische Länder «Produzenten» und europäische Länder «Konsumenten» sind, fliessen synthetische Drogen in die umgekehrte Richtung: von Westeuropa nach Südamerika. Im Gegensatz zu Kokain sind synthetische Drogen nicht von Pflanzen und landwirtschaftlichen Arbeitskräften abhängig und somit geografisch uneingeschränkt. Sie können praktisch überall unter Verwendung herkömmlicher Chemikalien oder Arzneimittel hergestellt werden. Substanzen wie MDA – ein Vorprodukt von MDMA – oder «Tusi» (rosa Kokain), eine Mischdroge aus MDMA, Ketamin und Koffein, wurden in den letzten Jahren in ganz Lateinamerika kommerzialisiert.

«Entgegen der gängigen Darstellung, wonach südamerikanische Länder «Produzenten» und europäische Länder «Konsumenten» sind, fliessen synthetische Drogen in die umgekehrte Richtung: von Westeuropa nach Südamerika.»

Die öffentliche Aufmerksamkeit sowie die Prioritäten der staatlichen Strafverfolgung fokussieren in der Regel auf die sichtbarsten Elemente der Drogenwirtschaft, wie kriminelle Organisationen, geheime Labors, «Drogen-U-Boote», Razzien, Militäroperationen und drogenbedingte Gewalt. Diese Elemente sind zwar von entscheidender Bedeutung, aber sie zeigen nur die halbe Wahrheit. Hinter jedem Kilo Kokain oder MDMA stehen weniger sichtbare, aber ebenso relevante Infrastrukturen und Netzwerke, grösstenteils aus legalen Märkten. Illegale Wirtschaftssysteme und deren Akteure existieren nicht isoliert in einer «Schattenwirtschaft», sondern sind eng verflochten und wachsen parallel mit legalen Mechanismen, Infrastrukturen und Regulierungslücken.

«Hinter jedem Kilo Kokain oder MDMA stehen weniger sichtbare, aber ebenso relevante Infrastrukturen und Netzwerke, grösstenteils aus legalen Märkten.»

Chemikalien als Unterstützer

Die chemischen und pharmazeutischen Industrien sind unfreiwillige Partner bei der Massenproduktion illegaler Drogen. Trotz enormer Anstrengungen zur Kontrolle der dort verwendeten Chemikalien, sind die genannten Industrien ohne klare supranationalen Regulierungen gewachsen. Jede Regierung legt eigene Kontrollmassnahmen fest, die jedoch oft unwirksam sind. Für die Drogenmärkte bedeutet dies ein riesiger Reservoir legaler Chemikalien, die umgeleitet, zweckentfremdet und für illegale Zwecke genutzt werden können. Berichte haben gezeigt, dass Drogenmärkte sehr dynamisch und innovativ sind und sich schnell an neue Vorschriften anpassen. Sobald eine Chemikalie streng kontrolliert wird, wird sie durch weniger kontrollierte Chemikalien oder andere Substanzen ersetzt. So gibt es etwa Hinweise darauf, dass in Brasilien Helional, eine international unregulierte Chemikalie, bei der lokalen Herstellung von MDA und MDMA verwendet wird. Helional wird hauptsächlich als Duftstoff in Seifen und Waschmitteln verwendet. Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt «Illegal synthetic drugs in Europe and Latin America: regulation of precursor chemicals and online market dynamics», das vom Centro Latinoamericano-Suizo an der Universität St.Gallen in Zusammenarbeit mit der Université de Lille durchgeführt wird, die Vorschriften und den Handel mit Chemikalien, die für die Herstellung synthetischer Drogen und Kokain verwendet werden. Wie verhindern Produktions- oder Handelsunternehmen die illegale Verwendung ihrer Chemikalien? Wie sollten sie mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten, um Kontrollen durchzusetzen? Wie beschaffen kriminelle Akteure Chemikalien aus legalen Quellen für die Drogenherstellung? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht eine vielschichtige Analyse der Herausforderungen, denen Staaten an den komplexen Schnittstellen zwischen legaler und illegaler Wirtschaft gegenüberstehen sowie der Auswirkungen auf den globalen Privatsektor und die transnationale Strafverfolgung.

Drogenhandel und digitale Plattformen 

Am anderen Ende der Kette, im Verkauf, spielt Technologie eine grundlegende Rolle. Menschen wie Lisa, eine 20-jährige Veterinärstudentin aus Argentinien, betreiben ein florierendes Nebengeschäft. Sie konzentriert sich auf den Verkauf von Ecstasy-Pillen an Frauen und nutzt dabei zwei digitale Tools: Telegram und Mercado Pago. Über private Telegram-Communities bewirbt sie Produkte und arrangiert Transaktionen. Mercado Pago, eine in Lateinamerika weit verbreitete digitale Zahlungsplattform, ermöglicht ihr Zahlungen schnell und sicher abzuwickeln. Auf diese Weise betreibt Lisa einen illegalen Drogenhandel, der kontinuierlich läuft.

Drogenverkauf via Telegram

Kokain und andere Drogen werden zunehmend in privaten Chats über beliebte Messenger-Apps wie Telegram verkauft.

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass digitale Medien den Zugang zu allen Arten von Drogen erheblich erleichtern. Während einige Studien zeigen, wie Kryptomärkte – eBay-ähnliche Marktplätze im Dark Web – den Kauf von Drogen von überall auf der Welt und die Lieferung per Post ermöglichen, zeigen andere Studien, dass es noch leichter zugängliche digitale Plattformen für Drogenhandel gibt: soziale Medien. Insbesondere jene mit verschlüsselter Nachrichtenübermittlung ermöglichen einen schnellen, sicheren und bequemen Zugang. An diesen diskreten Treffpunkten können sich Verkäufer und Käufer über Produkt, Liefermethode und -frist sowie Bezahlung einigen. Doch die Technologie hat noch mehr Vorteile: Nach Abschluss des Geschäfts können Käufer illegale Substanzen oft digital bezahlen. Entgegen der Vorstellung, dass es besser ist, nicht mit Kreditkarten oder virtuellen Wallets zu bezahlen, weil diese Spuren hinterlassen, zeigen Untersuchungen, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Bezahlung mit virtuellen Wallets (man denke an die bekanntesten!) ist weit verbreitet.

«Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass digitale Medien den Zugang zu allen Arten von Drogen erheblich erleichtern.»

Vor diesem Hintergrund untersucht das SNF-Projekt «Illegal transactions in the digital age: emerging practices and regulatory intermediaries in Latin America» die Rolle regulatorischer Intermediäre. Welche Praktiken entstehen beim Kauf und Verkauf illegaler Produkte über Plattformen und digitale Zahlungsmethoden? Was führt zur Wahrnehmung, dass Strafverfolgung dort nicht wirksam ist? Diese Fragen sind nicht trivial, da sie eine Realität aufdecken, die bis vor kurzem undenkbar war. Sie verdeutlichen auch die regulatorischen Herausforderungen, denen Communities und Staaten in Bezug auf mächtige Technologieunternehmen gegenüberstehen.

Die Debatte anheizen

Illegale Märkte, insbesondere die Drogenwirtschaft, sind völlig von legalen Infrastrukturen und Märkten abhängig und nutzen diese. Dieselben Märkte, welche die nötigen Chemikalien für die Herstellung von Medikamenten oder Putzmitteln liefern, werden auch für die Drogenproduktion genutzt. Alltägliche Technologien wie Smartphones, Apps und das Internet erleichtern den Drogenhandel erheblich. Dies bringt viele Herausforderungen mit sich, wovon zwei zusammenhängen: Erstens muss die Rolle der Technologie bei der Förderung illegaler Märkte im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen. Unsere Faszination für neue Technologien muss von Überlegungen über deren Folgen begleitet werden, so etwa dem leichten Zugang zu problematischen oder moralisch verwerflichen Produkten und Dienstleistungen. Die Regulierung von Technologieunternehmen muss da einen prominenten Platz einnehmen. In dieser Hinsicht sind die Verbote Australiens und Dänemarks für die Nutzung sozialer Medien durch Minderjährige eine Überlegung wert. Zweitens müssen Regulierungsanstrengungen auch Vorschriften zur Bekämpfung der Geldwäsche beinhalten. Grosse Teile der Bevölkerung erhalten nur deshalb Zugang zu finanziellen Diensten, weil Banken oder Fintech-Unternehmen «Light Onboardings» durchführen, d. h. weniger Informationen über sie einholen. Infolgedessen werden täglich Millionen von Transaktionen ausgeführt, ohne Möglichkeit, Zweck oder Herkunft der Gelder zu überprüfen. Schliesslich wird die Regulierung ohne wirksame staatliche Durchsetzung abstrakt und unglaubwürdig. Der rasante technologische Fortschritt schafft komplexe Szenarien, die adäquate staatliche Kapazitäten erfordern. Dazu gehören spezifisches Wissen, Fachkompetenz und technische Ressourcen.

Beckert, Jens, and Matias Dewey. 2017. The Architecture of Illegal Markets. Towards an Economic Sociology of Illegality in the Economy.

Buch

Beckert, Jens, and Matias Dewey. 2017. The Architecture of Illegal Markets. Towards an Economic Sociology of Illegality in the Economy.

Wer verstehen will, wie illegale Märkte funktionieren – und nicht einfach davon ausgeht, dass sie lediglich eine Folge krimineller Organisationen oder gescheiterter Staaten sind –, bietet dieses Buch eine neue Perspektive auf schwer zu erforschende Wirtschaftssysteme. Es befasst sich mit zusätzlichen Elementen, die Wirtschaftssysteme ausserhalb des Gesetzes ausmachen, wie Kredite, Infrastruktur, soziale Akzeptanz und die Bedeutung von Waren. Es ist der erste ernsthafte Versuch, illegale Märkte aus soziologischer Perspektive zu konzeptualisieren, zu klassifizieren und zukünftige Forschungsrichtungen vorzuschlagen.

Dewey, Matías, and Andrés Buzzetti. 2024. «Easier, Faster and Safer: The Social Organization of Drug Dealing through Encrypted Messaging Apps.» Sociology Compass 18 (2): e13175.

Studie

Dewey, Matías, and Andrés Buzzetti. 2024. «Easier, Faster and Safer: The Social Organization of Drug Dealing through Encrypted Messaging Apps.» Sociology Compass 18 (2): e13175.

Die Digitalisierung beschränkt sich nicht nur auf die legale Wirtschaft. Sie durchdringt auch illegale Märkte, macht den Austausch von Waren und Dienstleistungen einfacher und erschwert gleichzeitig Ermittlungen. Diese Studie zeigt beispielsweise, dass völlig legale Apps für den Verkauf von Drogen eingesetzt werden. Die Erfahrungen von Drogenverkäufern und -konsumenten sind eindeutig: Apps wie Telegram machen den Drogenhandel einfacher, schneller und sicherer. Dieser Artikel war der erste, der dieses Phänomen ans Licht brachte.

Paredes, Maritza, and Alvaro Pastor. 2023. “Illicit crops in the frontier margins: Amazonian indigenous livelihoods and the expansion of coca in Peru.” The Journal of Peasant Studies, 51(4), 960–981.

Studie

Paredes, Maritza, and Alvaro Pastor. 2023. “Illicit crops in the frontier margins: Amazonian indigenous livelihoods and the expansion of coca in Peru.” The Journal of Peasant Studies, 51(4), 960–981.

Die Ausweitung der Koka-Kokain-Märkte im Amazonasgebiet ist nicht allein auf Staatsversagen oder kriminelle Gruppen zurückzuführen. Dieser Artikel zeigt auf, wie langfristige Entwicklungsprojekte im Amazonasgebiet häufig zur Erschliessung neuer landwirtschaftlicher Gebiete, zu Ansiedlungen und zur Veränderung der Ökologie führen. Die unbeabsichtigten Folgen dieser staatlichen Entwicklungsprojekte sind die fortschreitende Verarmung der lokalen landwirtschaftlichen Gemeinschaften, die Verschlechterung der Bodenqualität und die Verschlechterung der Landbesitzverhältnisse. In diesem Szenario erweisen sich Kokapflanzen als die praktikabelste Option zur Sicherung des Lebensunterhalts, auch für indigene Völker.