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In einem Schrebergarten in Winterthur, Parzelle 124, kam am 30. Mai 2020 der Clan der Larosa zu einer mangiata zusammen. Das ist ein traditioneller «Arbeitslunch» der kalabrischen Mafia, der Ndrangheta. Bei gebratenem Ziegenfleisch wird das kriminelle Geschäft verhandelt. Angereist waren, samt Gefolge, der geschäftsführende Boss aus Norditalien und der in Zürich wohnhafte Schweiz-Chef des Clans: Bruder und Sohn des in Italien inhaftierten Bosses Giuseppe Larosa, genannt Beppe la Mucca. Gastgeber waren laut Haftbefehl der italienischen Staatsanwälte in Winterthur wohnhafte Mitglieder der Familie.
Der Larosa-Clan belieferte die Schweiz auf der Achse Graubünden – St.Gallen – Zürich – Aargau – Solothurn – Bern mit Kokain. Operative Zentren sind in Kalabrien und die Lombardei, aber zunehmend auch die Schweiz mit Schwerpunkt im Kanton St.Gallen. Sie installierten sich hier, um das Drogengeschäft abzuwickeln, begünstigt durch milde Strafen. In einem abgehörten Gespräch sagte ein Bandenmitglied, in der Schweiz gehe es den Mafiosi «gut», im Gegensatz zu Italien, wo man sie «ruiniert» habe. Führungspersonen des Clans hatten schon früher Aufenthaltsbewilligungen über Anstellungen in der Bauindustrie erhalten, einem wichtigen Einfallstor für kriminelle Organisationen.
In Sargans SG entsteht für 50 Millionen ein Neubau der Kantonsschule. Dort nahm die Kantonspolizei im August 2024 vier Männer aus dem Kosovo ohne Arbeitsbewilligung fest. Zwei Monate später wurden auf der gleichen Baustelle erneut Schwarzarbeiter angetroffen, diesmal waren es nicht gemeldete Syrer. Erst Ende November 2025 nahmen die mittlerweile sehr aktiven St.Galler Behörden erneut drei Arbeiter fest: Einen Vietnamesen, einen Kosovaren und einen Albaner. Der Fall klingt krass, aber er ist branchentypisch: Bauunternehmen vergeben Arbeiten an Subunternehmen, die vielfach Sozialabgaben umgehen und Dumpingpreise anbieten.
Wie das läuft, zeigte ein Luzerner Fall. Im Januar 2025 verurteilte das Kriminalgericht zwei Verantwortliche einer alteingesessenen Eisenlegerfirma und einen Berater wegen gewerbsmässigem Betrug. Die Firma nutzte 27 fiktive Subunternehmen als Durchlaufstationen für Scheinarbeitgeberrollen. Insgesamt 15 Strohleute hoben überwiesene Gelder ab und gaben sie gegen Provision bar zurück. Viele dieser Strohleute tauchen auch in anderen dubiosen Firmen auf. Ein italienischer Strohmann war etwa Organ in Firmen eines fragwürdigen St.Galler Anwalts, der im Fall des verschwundenen Italieners Pasquale Lamberti eine Rolle spielte. Der Anwalt stellte einen Schweizer Firmenmantel bereit, über den Lamberti von der Ndrangheta um Millionen gebracht wurde. 2025 verurteilte das Bezirksgericht Zürich diesen Anwalt in einem anderen Fall wegen Beihilfe zu Betrug. Er soll einem Gipsermeister geholfen haben, Temporärfirmen zu betrügen. Auch dieser Gipser ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Er war 2023 wegen Betrugs und Menschenhandels in Zürich zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.
Auch Drogengelder fliessen über solche Strukturen. Ein Luzerner Reisebüro diente bis 2024 als Umschlagplatz für über sieben Millionen Franken einer ethnisch-albanischen Organisation. Das Geld wurde nach dem Hawala-System in den Kosovo und nach Albanien transferiert. Die Bundesanwaltschaft und die albanische Sonderstaatsanwaltschaft führen Strafverfahren. Ein Nordmazedonier soll als Kurier Drogengelder eingesammelt haben, wobei er über seine Reinigungs- und Baufirma fiktive Rechnungen für die Geldwäsche ausstellte. In einem abgehörten Telefon sagte er: «Ich mache Rechnungen, er überweist es mir, und ich gebe es ihm bar zurück. Ohne Zins gibt es nichts.» Auch die Solothurner Justiz verurteilte Balkan-Dealer, die ihre Einnahmen über dieses Reisebüro wuschen. Die Mengen waren enorm: Einmal wurden 256 Kilogramm Kokain im Hafen Hamburg beschlagnahmt, bestellt von der Solothurner Bande.
Die Schweizer Behörden wissen heute noch zu wenig über solche Strukturen. 2024 sagte die damalige Chefin des Bundesamts für Polizei (Fedpol) Nicoletta della Valle, man müsse das Wissen über die Mafia erweitern und es brauche mehr Informationsaustausch zwischen Bund und Kantone. Auch letztere sehen dringenden Handlungsbedarf: Von Gesetzen, «die ganz im Sinn der Täter sind», sprach Karin Kayser-Frutschi, Co-Präsidentin der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren KKJPD. Besonders der mangelhafte Datenaustausch im Inland erschwert Ermittlungen. Überall fehlt Personal, auch bei der Polizei. Bundesanwalt Stefan Blättler und zuletzt auch die Eidgenössische Finanzkontrolle warnen, dass bei Fedpol Ermittler fehlen.
Doch langsam kommt die Politik in die Gänge. Im November 2024 gab Justizminister Beat Jans (SP) eine «Nationale Strategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität» in Auftrag. Sie wird unter Fedpol-Führung erarbeitet und soll ab 2026 umgesetzt werden. Unabhängig davon stimmte der Nationalrat im September 2025 als Erstrat einer Motion seiner Sicherheitspolitischen Kommission zu, die die Schaffung von 100 bis 200 Stellen bei Fedpol innert zehn Jahren verlangt. Die Thurgauer SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr will, dass Total- und Generalunternehmen zivilrechtlich haften, etwa wenn die von ihnen beauftragten Subunternehmen Sozialversicherungsbeiträge umgehen. Ihre Parlamentarische Initiative erhielt im Juni 2025 vom Nationalrat als Erstrat grünes Licht. Beim Datenaustausch setzt Nationalrat Martin Candinas (Mitte, GR) mit seiner Motion zur Bekämpfung der Schwarzarbeit an. Auch Handelsregister-, Betreibungs- und Konkursämter sollen zur Zusammenarbeit mit den kantonalen Kontrollorganen verpflichtet werden. Trotz Widerstand des Bundesrats unter Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) stimmten beide Räte dem Vorstoss zu.
Die neue Fedpol-Chefin Eva Wildi-Cortès fordert mehr Kooperation, Personal und Instrumente. Sie will einfacher und rascher dubiose Gelder einfrieren können, «um deren vorzeitigen Abzug zu verhindern». Doch wenn es um die Kontrolle von Geldflüssen geht, bremst die hiesige Politik häufig. Das zeigte sich etwa im September 2025 beim Geldwäschereigesetz. Zwar wurden Bestimmungen verschärft, aber es bleiben Schlupflöcher. So setzten SVP, FDP und Mitte im Parlament durch, dass bei Immobilien erst ab einem Verkaufspreis von 5 Millionen Franken die Sorgfaltspflichten gemäss Geldwäschereigesetz gilt. Mitte-Ständerat Beat Rieder (VS) etwa warnte davor, «die Gesamtbevölkerung der Schweiz unter Generalverdacht zu stellen». Kauf und Verkauf von Immobilien sei ein «ehrbares Geschäft». Vergeblich mahnte in der gleichen Debatte Ständerat Carlo Sommaruga (SP, Genf), dass die «Erben der Pizza Connection» am Werk seien und in der Schweiz mit Vorliebe in Immobilien investierten.
Fazit: Kriminelle Akteure nutzen die liberalen Schweizer Gesetze und den Föderalismus gezielt. Schon heute werden viele Verstösse von Handelsregisterämtern, Sozialversicherungen, Polizeibehörden etc. entdeckt, aber aus Mangel an Ressourcen nicht vertieft verfolgt. Manchmal fehlt es auch am Willen. Es reicht aber nicht aus, die Gesetze zu schärfen. Die Schweiz muss bereit sein, sie durchzusetzen und ihren Behörden die nötigen Mittel dafür geben. Und die Politik muss endlich klare Haltung zeigen. Nur besteht die Chance, die kriminelle Szene wenigstens so unter Kontrolle zu bekommen, dass sie sich nicht weiter ausbreitet.
Henry Habegger ist Journalist und langjähriger Bundeshausredaktor. Er schreibt über Politik aber auch regelmässig über das Organisierte Verbrechen. So etwa in der vielteiligen Serie «Der grosse Clan-Report» für die Zeitungen von CH Media.