Handeln Straftäter rational im Sinne eines Homo Oeconomicus? Nora Markwalder erläutert, dass rationalen Kriminalitätstheorien zufolge Täter Entscheidungen oft durch eine bewusste Kosten-Nutzen-Abwägung treffen und Delikte vor allem dort begangen werden, wo günstige Gelegenheiten bestehen. Hier kann Prävention gezielt ansetzen. Die Kritik rationaler Kriminalitätstheorien betont hingegen, dass viele Taten gerade ohne rationales Kalkül erfolgen und stattdessen soziale oder psychische Faktoren eine grössere Rolle spielen.

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Der Homo Oeconomicus in der Kriminalität

Rationale Kriminalitätstheorien existierten in der Kriminologie schon lange bevor der Nobelpreisträger Gary S. Becker die ökonomische Analyse der Kriminalität in den 1960er Jahren eingeführt hat. Doch wie vernünftig handeln Straftäterinnen und Straftäter tatsächlich? Der vorliegende Beitrag erläutert den Anwendungsbereich rationaler Kriminalitätstheorien und ihren Nutzen für die Prävention von Delinquenz.
Zusammenfassung Handeln Straftäter rational im Sinne eines Homo Oeconomicus? Nora Markwalder erläutert, dass rationalen Kriminalitätstheorien zufolge Täter Entscheidungen oft durch eine bewusste Kosten-Nutzen-Abwägung treffen und Delikte vor allem dort begangen werden, wo günstige Gelegenheiten bestehen. Hier kann Prävention gezielt ansetzen. Die Kritik rationaler Kriminalitätstheorien betont hingegen, dass viele Taten gerade ohne rationales Kalkül erfolgen und stattdessen soziale oder psychische Faktoren eine grössere Rolle spielen.
Veröffentlicht am: 18.12.2025
Nora Markwalder

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch die Stadt und sehen, wie jemand an einem Bankomaten 5000 CHF abhebt. Ohne es zu merken, fällt der Person dabei eine Tausendernote zu Boden. Die Person entfernt sich, und weit und breit ist niemand sonst zu sehen. Was tun Sie? Stecken Sie den Geldschein ein? Oder machen Sie die Person auf Ihren Verlust aufmerksam? Für ein Einstecken würde zum Beispiel sprechen, dass Sie sich mit den 1000 CHF etwas Schönes leisten könnten und die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Handlung entdeckt wird, sehr gering ist. Allerdings drohen strafrechtliche Konsequenzen, falls Sie ertappt werden, und das Einstecken des Geldscheins erachten Sie vielleicht zudem als moralisch verwerflich. Sie wägen demnach in Ihrem Kopf blitzschnell die Kosten und Nutzen einer solchen Handlung ab.

Das rationale Verbrechen

Entscheiden potenzielle Straftäterinnen und Straftäter ebenso ökonomisch, mithin «vernünftig»? Gibt es das «rationale» Verbrechen überhaupt, oder ist das Begehen von Delikten nicht immer Ausdruck von Irrationalität? Diese Fragen prägen die Diskussion in der Kriminologie nicht erst seit Gary S. Beckers ökonomischer Analyse der Kriminalität, sondern wurden bereits im 18. Jahrhundert in der Klassischen Schule der Kriminologie aufgegriffen. Gelehrte wie Cesare Beccaria (1738-1794) oder Jeremy Bentham (1748-1832) gingen von einem freien und vernunftbasierten Handeln der Menschen aus und erklärten die Entstehung von Kriminalität damit, dass Täterinnen und Täter den erwarteten Nutzen eines Delikts höher einschätzen als die erwarteten Kosten, insbesondere das Risiko der Bestrafung. Daraus leitete Cesare Beccaria seine bis heute einflussreiche Theorie ab, wonach die Abschreckungswirkung von Strafen abhängig ist von der Wahrscheinlichkeit der Bestrafung, der Schwere der Strafe sowie der Geschwindigkeit, in der die Strafe vollzogen wird.

«Durch situative Präventionsmassnahmen kann der Schutz des Tatobjekts und dementsprechend das Risiko, bei einer Straftat erwischt zu werden, erhöht werden.»

Situative Kriminalitätstheorien

Aus dieser Kosten-Nutzen-Überlegung entwickelten sich auch die sogenannten situativen Kriminalitätstheorien, die sich mit dem Sprichwort «Gelegenheit macht Diebe» umschreiben lassen. Als prominenteste Vertreter dieser situativen Kriminalitätstheorien postulieren Lawrence E. Cohen und Marcus Felson in ihrer Routine Activities Theory, dass ein Delikt immer dann begangen wird, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind:
 

  • (1) Es gibt eine motivierte Täterin oder einen motivierten Täter,

  • (2) es liegt ein geeignetes und attraktives Tatobjekt vor, und

  • (3) dieses Tatobjekt ist unzureichend geschützt.
     

Der zu Beginn geschilderte Fall illustriert eine solche «Tatgelegenheit»: Wäre die Tausendernote nicht verloren gegangen, hätte sich die Frage nach dem Einstecken gar nicht erst gestellt. 

Situative Erklärungsansätze haben den Vorteil, dass sie sich ausgesprochen gut für die Kriminalprävention eignen. Denn wenn attraktive Gelegenheiten Delikte fördern, lässt sich Kriminalität im Gegenzug durch Massnahmen reduzieren, die das Begehen einer Tat erschweren. So etwa kann die Attraktivität eines Tatobjekts reduziert werden, indem man den möglichen Gewinn aus der Straftat schmälert. Ein Beispiel sind bargeldlose Bezahlsysteme wie Kreditkarten oder TWINT, die in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass viele Personen kaum mehr Bargeld nutzen. Raub- und Banküberfälle lohnen sich aus diesem Grund heutzutage kaum mehr, da in den Banken deutlich weniger Bargeld zirkuliert und Personen auf der Strasse auch weniger Bargeld mit sich führen. Durch situative Präventionsmassnahmen kann aber auch der Schutz des Tatobjekts und dementsprechend das Risiko, bei einer Straftat erwischt zu werden, erhöht werden. Ein verbesserter Schutz des Tatobjekts kann zum Beispiel durch Diebstahlsicherungen, aber auch durch eine Überwachung mittels Videokameras oder Polizeipräsenz erreicht werden. Wenn die Polizei beispielsweise etwa bestimmte illegale Märkte im Darknet überwacht, steigt das Risiko, bei einem Kauf oder Handel von verbotenen Gütern entdeckt zu werden. Gleichzeitig zeigt gerade das Beispiel der digitalen Kriminalität, dass die Digitalisierung auch zahlreiche neue Gelegenheiten für potenzielle Täterinnen und Tätern geschaffen hat und die Anonymität im Internet das Risiko, entdeckt zu werden, erheblich verringert.

«Besonders für Deliktsbereiche wie häusliche Gewalt spielt rationales Abwägen kaum eine Rolle.»

Kritik am Homo Oeconomicus und rationalen Kriminalitätstheorien


Gegenüber den rationalen Kriminalitätstheorien wurde aber auch immer wieder Kritik geäussert. So wird bemängelt, dass soziale, psychische und biologische Einflussfaktoren in diesen Theorien unberücksichtigt bleiben. Zudem wird deren Grundprämisse, wonach Menschen – und insbesondere auch Straftäterinnen und Straftäter – primär rational handeln, zu Recht in Frage gestellt. Gerade kriminelles Verhalten ist häufig nicht das Ergebnis eines nüchternen Kalküls, sondern Ausdruck von Plan- und Ziellosigkeit oder von starken emotionalen Impulsen. Dies gilt besonders für Deliktsbereiche wie häusliche Gewalt, in denen rationales Abwägen kaum eine Rolle spielt. Prävention durch Veränderung der Gelegenheitsstrukturen ist daher nur für ausgewählte Straftaten wirksam. Trotz dieser berechtigten Kritik bieten rationale Kriminalitätstheorien einen wichtigen Mehrwert für die Kriminalitätsprävention. Sie machen deutlich, wie stark das Umfeld kriminelles Verhalten beeinflusst – und wie dieses Umfeld gestaltet werden kann, um Delikte zu verhindern. Deshalb werden sie auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, wirksame Strategien zur Reduktion von Kriminalität zu entwickeln.

Martin Scorsese: «The Wolf of Wall Street» (2013)

Film

Martin Scorsese: «The Wolf of Wall Street» (2013)

Wer wissen möchte, wie Gelegenheiten Delikte begünstigen, dem sei der Film «The Wolf of Wall Street» empfohlen. Der Film basiert auf der Geschichte des Börsenmaklers Jordan Belfort und spielt in den 1980er und 1990er Jahren in New York. Tatort ist der kaum regulierte Markt für sogenannte «Pennystocks». Der Film zeigt auf, wie einfach Marktmanipulationen und der Betrug argloser Kundinnen und Kunden damals waren und wie gering die Chance, erwischt zu werden – vor allem, wenn man die Finanzaufsichtsbehörden in eisig gekühlte Büros einsperrt…